Schmerzensgeld – Plädoyer für die taggenaue Berechnung
1.223.730,14 € statt 30.000,00 Schmerzensgeld könnte die Geschädigte in unserem Beispielsfall verlangen – und bekommen -, wenn es gerecht zuginge.
1.223.730,14 € statt 30.000,00 Schmerzensgeld könnte die Geschädigte in unserem Beispielsfall verlangen – und bekommen -, wenn es gerecht zuginge.
Wir verfolgen deswegen einen neuen Ansatz, der sich aber bereits aus der Rechtsprechung des Großen Senats des BGH für Zivilsachen vom 06.07.1955 (!) ergibt.
Der Bundesgerichtshof hat damals ausgeführt: „Im Vordergrund soll das Schmerzensgeld dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich bieten für diejenigen Schäden, für diejenigen Lebenshemmungen, die nicht vermögensrechtlicher Art sind.“
Die Suche nach der vom Gesetzgeber gemeinten billigen Entschädigung (§ 253 Abs. 2 BGB) verlangt daher die umfassende allseitige Betrachtung der Funktionen des Schmerzensgeldanspruches mit seinen Aufgaben, dem Geschädigten einen Ausgleich für das Erlittene zu bieten, ihm aber auch Genugtuung zu gewähren.
Dabei muss man berücksichtigen, dass das Schmerzensgeld auch alle Schäden und Lebenshemmungen in der Zukunft bis zum Tod des Geschädigten abwickeln muss. Dieser Aspekt wird unseres Erachtens von der heutigen Rechtsprechung nicht ausreichend genug gewürdigt.
Wichtig ist es auch, auf die jeweiligen Besonderheiten bei bestimmten Unfällen einzugehen:
Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen und Leiden bilden das ausschlaggebende Moment. Je größer der angerichtete Schaden ist, desto weniger kommt es auf den Ausgleich für den Geschädigten an, sondern umso mehr auch auf die Genugtuung für den Geschädigten.
Daneben können alle Umstände berücksichtigt werden, die dem einzelnen Schadensfall sein besonderes Gepräge geben, wie z.B. der Grad des Verschuldens oder die wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten.
Das Schmerzensgeld muss durch eine freie richterliche Entscheidung im Einzelfall jeweils getrennt festgelegt werden.
Diese Grundüberlegungen des Großen Senats für Zivilsachen sind in den Folgejahrzehnten auch von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vielfach bestätigt worden.
Man spricht bis heute von der so genannten Doppelfunktion des Schmerzensgelds (Ausgleich und Genugtuung).
Würde ein Senat des Bundesgerichtshofs von dieser Rechtsprechung aus dem Jahr 1955 abweichen wollen, müsste er die Entscheidung dem Großen Senat für Zivilsachen wieder zur Entscheidung vorlegen.
Dies ist bis heute nicht geschehen, so dass die oben genannten Grundsätze weitergelten.
Die heutige Rechtspraxis begegnet deswegen größten juristischen Bedenken.
Dieser Anspruch auf taggenaue Bemessung des Schmerzensgeldes ergibt sich unmittelbar aus § 253 II BGB. Dazu ist noch die Rechtsprechung des Großen Senats für Zivilsachen zu berücksichtigen, wonach ein zweistufiges Konzept angewendet werden soll.
Auf der Stufe eins sind gleiche, bestimmte Kriterien zur Bemessung und Bewertung von Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen und Leiden, also Kriterien für die Lebensbeeinträchtigung, zu entwickeln. Diese entsprechen der Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes.
Auf der Stufe zwei sind dann andere bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen Umstände, wie z.B. der Verschuldensgrad oder die Vermögensverhältnisse des Geschädigten zu gewichten. Dies entspricht dann der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes.
Wichtig ist, dass sämtliche Bewertungskriterien für das Schmerzensgeld immer individuell bestimmt werden. Es geht also insbesondere um die Konkretisierung der vom Großen Senat für Zivilsachen aufgestellten Kriterien der Lebensbeeinträchtigung.
Es müssen gleiche, faire, vorhersehbare und transparente Bemessungskriterien entwickelt werden, die es erlauben, auf den Einzelfall einzugehen.
Diesen Anforderungen genügen die bisher gebräuchlichen Bemessungssysteme für das Schmerzensgeld nicht.
Eine vernünftige Matrix der Bemessungsfaktoren wurde von der Rechnung bis heute nicht entwickelt.
Mal hier, mal da, mal nirgendwo.
Dies führt dazu, dass im Einzelfall auf andere Faktoren zurückgegriffen wird, die in vergleichbaren Fällen eventuell gar keine Rolle gespielt haben.
Die Rechtspraxis sucht bis heute nach objektivierenden Maßstäben für die Bemessung des Schmerzensgeldes. Sie findet diese angeblichen Objektivierung und zurzeit in Schmerzensgeldsammlungen.
Die Rechtsprechung versucht, vergleichbare Fälle gleich zu behandeln.
Diese flächendeckende Gleichbehandlung beider Schmerzensgeldregulierung erfolgt anhand von Schmerzensgeldtabellen.
Das funktioniert in der Praxis aber nicht, weil es wegen der unübersehbaren Zahl von Schmerzensgeldentscheidungen, die nur zum Teil Eingang in Schmerzensgeldtabellen finden, nicht zu einer einheitlichen Linie bei der Frage der Höhe des Schmerzensgeldes kommt.
Die bisherige Rechtsprechung und die Praxis berufen sich zwar auf vergleichbare Fälle und Fallgruppen, so wie sie etwa in Schmerzensgeldsammlungen veröffentlicht werden.
Diese Schmerzensgeldsammlungen sind aber durch keinerlei überprüfte oder überprüfbare Systematik gekennzeichnet.
Die Fälle, die erfasst werden, sind nicht nach gleichen Kriterien systematisiert.
Deswegen sind die Abweichungen zwischen den Schmerzensgeldern bei ansonsten vergleichbaren Sachverhalten in der Praxis außerordentlich hoch.
Schwankungen zwischen 30 und 50 % und sogar 100 % sind nicht ungewöhnlich.
Im später gezeigten Musterfall wird dies genauer erläutert.
Hinzu kommt, dass das bisher gebräuchliche Bemessungssysteme für Schmerzensgeld an Kriterien anknüpft, die man nicht verallgemeinern kann.
Man kann sie auch nicht objektivieren.
Die Heftigkeit und Dauer von Schmerzen sind nicht objektivierbar.
Dagegen ist die Lebensbeeinträchtigung im Einzelfall durchaus objektivierbar, wie wir nachfolgend zeigen.
Man kann also die einzelnen Behandlungsabschnitte nach einem Unfall oder nach einem Behandlungsfehler objektivieren und so ein gerechtes System der Schmerzensgeldberechnung aufstellen.
Bemessung der Größe „Schmerz“
In den Schmerzensgeldtabellen findet sich z.B. des Öfteren der Versuch, die Größe, Heftigkeit und Dauer von Schmerzen irgendwie darzustellen, etwa indem man an die Dauer des jeweiligen Krankenhausaufenthalts anknüpft oder an die Dauer der Arbeitsunfähigkeit.
Hin und wieder wird auch auf etwaige medizinische Komplikationen bei der Behandlung hingewiesen.
Fragt man aber nach, wie heftig die Schmerzen waren und wie lange sie gedauert haben, findet man in den Schmerzensgeldsammlungen keinen Hinweis.
Lebensbeeinträchtigung ist objektivierbar.
Die Lebensbeeinträchtigung eines Geschädigten kann man objektivieren und messen, wenn man sich die einzelnen Behandlungsstufen ansieht, die ein Unfallopfer oder ein Patient durchlaufen muss, um am Schluss sein Leben wieder zu genießen.
Die stärkste Lebensbeeinträchtigung erfährt der Patient auf der Intensivstation, die zweitstärkste Beeinträchtigung auf der Normalstation im Krankenhaus. Danach folgende Reha-Maßnahmen, danach ambulante Behandlungen zuhause und schließlich geht es um die Frage, ob der Patient durch den Unfall oder Behandlungsfehler einen Dauerschaden davongetragen hat.
Dies bemisst man dann nach dem Grad der Schädigung (GdS) bzw. Grad der Behinderung (GdB).
Intensivstation: Höchste Punktzahl
Aus der Perspektive des Patienten, um den es bei der Bemessung des Schmerzensgeldes schließlich geht, wird mit der Behandlung auf einer Intensivstation der stärkste und höchste Grad der Lebensbeeinträchtigung erreicht.
Intensivbehandlung bedeutet nämlich die lückenlose, kontinuierliche Pflege und Behandlungsbereitschaft.
Dies bedeutet aus der Perspektive des Patienten eine vollständige Kontrolle des gesamten persönlichen Lebens einschließlich der intimsten Vorgänge rund um die Uhr.
Der Grad der Selbstbestimmung dabei geht gegen Null.
Sämtliche Lebensabschnitte, die der Patient normalerweise für sich plant, entwickelt und realisiert, wird nunmehr nach den Regeln der Intensivstation durchgeführt.
Der Patient ist völlig hilflos und abhängig von der Fremdbestimmung durch die behandelnden Ärzte und Krankenschwestern.
Normalstation: Zweithöchste Punktzahl
Ein Patient, der dann auf einer Normalstation liegt, erfährt immer noch eine gewaltige Beeinträchtigung.
Der gesamte Tagesablauf ist fremdbestimmt. Der Tagesbeginn ist je nach Zeitplan der Klinik, das Frühstück wird serviert, ohne den Patienten zu fragen, ob es im Recht ist.
Die Qualität der Mahlzeiten erinnert an Jugendherbergen. Die Besuchszeiten sind reglementiert.
Auch intime Verrichtungen müssen teilweise über Bettpfannen et cetera durchgeführt werden.
Selbst einfache Verrichtungen wie der Besuch beim Friseur, der Zugang zu einer Bibliothek oder das Telefonieren ist reglementiert.
Privatsphäre gibt es nicht.
Patienten, die zur Nachbehandlung in eine Rehabilitationsklinik überwiesen werden, leben nach wie vor wie im Krankenhaus.
REHA Klinik: Die dritthöchste Punktzahl
Der Patient wird nach einem durchterminierten Zeitplan immer noch fremdbestimmt.
Er verbringt den Tag mit Reha-Übungen, Anwendungen oder Massagen.
Der Grad der Privatheit ist immer noch stark eingeschränkt.
Die Tatsache, dass man auf Pflegedienstleistungen angewiesen ist, führt automatisch dazu, dass sich der Patient dem Dienst des Pflegepersonals anpassen muss.
Zu Hause: Die vierthöchste Punktzahl
Der Grad der Lebensbeeinträchtigung nimmt erst bei häuslich ambulanter Pflege ab.
Der Patient ist zwar immer noch schwach auf den Beinen, aber nicht mehr an das Bett gebunden.
Er kann sich jetzt im Regelfall bewegen.
Das Haus kann er im Regelfall noch nicht verlassen oder nur ausnahmsweise für einen Arztbesuch oder einem Gang zum Physiotherapeuten.
Der Grad der Privatheit nimmt allerdings wieder zu, obwohl der Patient auf der anderen Seite nicht in der Lage ist, am privaten und beruflichen Leben außerhalb seines Hauses teilzunehmen.
Dauerschaden: Die fünfthöchste Punktzahl
Ganz am Schluss ist dann die Frage eines Dauerschadens zu klären.
Ein Dauerschaden wird als Grad der Behinderung (GdB) oder als Grad der Schädigungsfolgen (GdS) festgestellt.
Dieses Konzept ist im Übrigen deckungsgleich mit dem hier vorgestellten Konzept der taggenauen Bemessung des Schmerzensgeld.
GdS und GdB sind ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung eines Gesundheitsschadens.
So steht das im Gesetz.
GdS und GdB drücken also genau die Lebensbeeinträchtigung aus, die für die taggenaue Bemessung des Schmerzensgeldes relevant sein sollten.
Es ist also bei der derzeitigen (unserer Meinung nach falschen) Rechtsprechung nur der eine Punkt nicht klar, welche Schmerzensgeldhöhe einem bestimmten Grad der Schädigungsfolgen täglich zuzumessen ist. Nur hier wäre eine kleine Änderung der Rechtsprechung notwendig.
Das bedeutet: Nur in einem Punkt unterscheidet sich das hier vorgestellte System der taggenauen Bemessung des Schmerzensgeldes von der bisher in der Rechtspraxis durchgesetzten Methode der Schmerzensgeldbemessung bei Dauerschäden. Das wollen wir und zahlreiche Kollegen für die Zukunft ändern.
Die Höhe der Prozentsätze wäre in einem transparenten System vorzunehmen.
Wir konzentrieren uns nicht nur auf Behandlungsfehler
Rechtsanwälte Jochen und Elke Beyerlin,
Fachanwälte für Medizinrecht, Ravensburg
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